Er war so ein ruhiger und netter Kollege
Er war sehr still, vielleicht manchmal zu still, in sich gekehrt, aber auch sehr angenehm. Kein böses Wort, sehr entgegenkommend, immer unterstützend, sehr hilfsbereit, wollte es immer allen recht machen – dabei hat er sich wohl oft selbst vergessen. Er war sehr sensibel, vielleicht zu sensibel – hat den Druck nicht so gut ausgehalten, sagt man. Andererseits war seine Sensibilität wahrscheinlich auch die Basis für seine Kompetenz und der Grund für seine ausgezeichneten Arbeitsergebnisse. Ab und zu ist er für einige Zeit ausgefallen – es soll ihm nicht so gut gegangen sein. Wenn man in seine traurigen Augen blickte, hatte man oft den Eindruck er würde die Last der ganzen Welt tragen. Es war nicht leicht, ihm etwas zu entlocken – wenn es nach ihm ging, war immer alles in Ordnung.
Doch vor einigen Tagen ist der sonst so verlässliche stille Kollege verschwunden, war für niemanden mehr erreichbar. Zuerst die Hoffnung, daß er sich über das Wochenende eine Auszeit gegönnt hat. Doch dann kommt er auch am Montag nicht zur Arbeit.
Jetzt stehen eine Kerze, Blumen und das Bild des stillen Kollegen auf seinem Schreibtisch und viele Menschen weinen.
[Warum} oder [Wofür}?
[Warum} hat er das getan? Haben ihn seine dunklen Gedanken übermannt? Konnte er kein Licht mehr sehen? Wurde der Druck zu groß? Konnte er die Verantwortung nicht mehr tragen, die ihm übertragen wurde bzw. die er sich selbst aufgelastet hatte? Hat jemand einen Fehler gemacht? … Wir werden es nie mehr erfahren und die Beantwortung dieser Fragen wird auch zu keinen befriedigenden Antworten führen.
[Wofür} ist der Tod des ruhigen, netten Kollegen gut? Denken wir jetzt über unsere Rolle nach? Wählen wir unsere Worte mit mehr Bedacht? Reagieren wir sensibler? Hören wir zukünftig besser zu? Vermeiden wir, daß der Druck zu groß wird? Achten wir besser auf uns selbst? Nehmen wir die Signale unseres Körpers bewußter wahr? Verdrängen wir die Verbissenheit und ersetzen sie durch entspannte Lockerheit? Nehmen wir unsere Mitmenschen mit mehr Achtsamkeit wahr? …
Wie können wir in ein paar Jahren der heute sieben Monate alten Tochter des netten, ruhigen Kollegen erklären, [Wofür} ihr lieber Vater gestorben ist?
Und jetzt? [ }
Stürzen wir uns wieder in unsere Projekte und lassen uns vom Alltag überrollen? Hecheln wir wieder den Deadlines hinterher und produzieren [Sinn}leere Inhalte? Versuchen wir weiter dem Druck standzuhalten und geben uns stark und unverletzlich? Rennen wir weiter im Hamsterrad, anstatt in der Natur zu laufen und für Ausgleich zu sorgen? Forcieren wir weiter unsere Karrieren, koste es was es wolle? Vernachlässigen wir weiter das Gleichgewicht zwischen kognitiver Herausforderung, emotionaler Ausgeglichenheit und körperlicher Fitness? Verstecken wir uns weiterhin hinter einer Maske, deren Antlitz lieber gesehen wird, als unser wahres Gesicht? Spielen wir weiter den harten Hund, der sein eigenes Spiegelbild nicht mehr erträgt und abends total erschöpft ins Bett fällt? …
Seine Lebensgefährtin, seine Eltern, seine Brüder, seine Freunde und seine Kollegen sind traurig. Seine kleine Tochter versteht zum Glück noch nicht was passiert ist – noch nicht – und gibt durch ihre Unbeschwertheit dem Rest der Familie Halt.
Unser Auftrag! [ }
Wie können wir zukünftig vermeiden, daß Menschen so leiden und vor Traurigkeit so viel weinen müssen?
Wir müssen nicht nur unnötigen zusätzlichen Druck vermeiden, sondern immer wieder hinterfragen, ob wir vorhandenen Druck wegnehmen können. Wir müssen besser und bewusster zuhören, um die stillen Kollegen auch zu verstehen. Wir müssen aber auch auf die lauten Kollegen achten, die ihre Sorgen oft noch besser überspielen. Wir müssen Führungskräfte ausbilden, damit sie der Verantwortung Menschen zu führen, auch gerecht werden können und dabei auch auf sich selbst achten. Wir müssen akzeptieren, daß der Mensch ein komplexes Gesamtkunstwerk ist und seine einzelnen Rollen nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Wir müssen uns selbst schützen, ehrlich zu uns selbst sein und auf unser Inneres hören. Wir müssen aufhören immer alles mit rationalem Denken bewältigen zu wollen, sondern müssen unseren Gefühlen erlauben, sich zu entfalten. Wir müssen ein Umfeld schaffen, das das auch zulässt. Wir müssen aussprechen, was uns beschäftigt und danach fragen. Wir müssen uns wieder mehr in die Arme nehmen. Wir müssen …
Wir müssen sicherstellen, daß ein Vater auch noch die Freude und die Kraft hat, seine Tochter zum Traualtar zu führen und als Opa seine Weisheiten an seine Enkel weitergeben kann.
Aufklärung [ }
Bist du jetzt traurig – verspürst du jetzt Gänsehaut – schockiert dich das Gelesene – bist du wütend – fühlst du dich verantwortlich – erkennst du dich selbst wieder – hältst du es für unangemessen, dass diese Geschichte hier erzählt wird?
Es ist eine wahre Geschichte, die sich erst kürzlich zugetragen hat, wenn dabei auch nicht alle Facetten des Geschehenen gesagt und beleuchtet werden.
Der stille, nette Kollege war mein kleiner Bruder, der jetzt ohne Schmerzen und Leid auf der anderen Seite des Lichts ist.
Ich möchte das Geschriebene nicht als Anschuldigung verstanden wissen, denn es gibt diesen einen einzigen Schuldigen nicht, es führt zu nichts und vor allem bringt es meinen Bruder auch nicht mehr zurück. Ich habe aber keine Lust zu schweigen, den genau dieses Verschweigen und die Tabuisierung von psychischen Erkrankungen ist Teil des Problems. Immer noch fällt es uns leichter körperliche Schmerzen zu akzeptieren – es fällt uns aber schwer, psychischen Leiden zumindest die selbe Bedeutung zuzugestehen. Ich möchte wachrütteln und sensibilisieren. Ich erachte es als meinen Auftrag dem Tod meines kleinen Bruders SINN zu verleihen, was wirklich nicht leicht fällt.
Wenn meine Zeilen aber dazu beitragen, dass ein Betroffener laut nach Hilfe ruft, weil er seine Scham überwindet – dass jemand von euch einen leidenden stillen Kollegen erkennt – dass einige Führungskräfte mit mehr Bewusstsein delegieren – dass wir wieder mehr den Menschen sehen, als Ziele, Projekte und Deadlines – dass wir wieder mehr miteinander sprechen und uns wieder mehr gegenseitig zuhören – dass … – dann wird ein Stück dieses [Sinn}s sicht- und spürbar!
Ich danke euch dafür, mich bei dieser [Sinn}findung zu unterstützen und somit pro-aktiv an der Gestaltung einer lebens[wert}eren Welt mitzuwirken. Merci!
Und an all jene, denen der Druck momentan zu groß wird, die oft traurig sind, die hoffnungslos sind, die weder vor noch zurück wissen und die mit der Dunkelheit kämpfen: Vertraue dich einem guten Freund an, lass deine Familie dein Fallnetz sein, befreie dich und weine deinen Kummer heraus, bewege dich im Freien und lass dich von der Sonne wärmen, melde dich bei mir, … – es gibt immer einen LICHTstrahl, an dem du dich festhalten kannst!
Entscheide dich fürs LEBEN!
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